Sonntag, 5. Januar 2014

Biedermeierismus küssdiehandke - Zu Peter Handke

Peter Handke, Versuch über den Pilznarren, Suhrkamp 2013.

Zwischen zwei moosigen Baumstammhälften wurde mir, auf einer Lichtung, auf der man Rehe gewärtigt hätte, im modrig gespaltenen Holz ein sonderbares Gewächs offenbar, ein ganz in sich gewandtes, nur dem Inneren zugetanes wortloses Geschöpf, dessen äußere Hülle den Rückzug allen Betrachtern verkündete, in Farbe, Geruch und Form einzig und einzigartig bedacht: Ich fand den Großpilz der deutschen Literatur, dessen Eigenschaften beim Schmoren, Braten, Salatieren bereits so bekannt sind, dass ich mich kurz fassen und ihm lediglich einen Ortungschip einsetzen möchte, damit wir ihn wieder finden könnten, sollten wir ihn denn, den Wanderer durch deutsche Wälder, in einigen Jahren wieder finden wollen.

Am besten lässt sich Handke im Kontrast verorten. Felicitas Hoppe hat sich aus der traditionellen Moderne geschält und ihre neue, klassizistisch intakte Literatursprache in Hoppe gefunden. Ähnliches hat schon vor Jahrzehnten Handke getan. Bei beiden scheint das Bedürfnis vorhanden gewesen zu sein, sich über Anleihen bei älteren Traditionen der Stereotype der Moderne zu entledigen. Wir sehen also im Pilznarr den x-ten Betätigungstext für Handkes ursprünglich neuen Prosastil. Abgesehen von der Intention und Methode in der Stilfindung könnte sich dieser von Hoppes kaum mehr unterscheiden. Die Moderne, aus der Hoppe kam, ist eher die symbolistisch-surrealistische von Bachmann, diejenige, an der sich der junge Handke versuchte, die harttrocken-rapportartige Eichs, und vielleicht lässt sich auch daraus erklären, warum Hoppe sich nach einem kristallenen, Handke aber einem warmen Ton umsah, um sich weiterzuentwickeln, beide also nach einem ihrem ursprünglichen möglichst konträren. Fündig wurde Hoppe scheinbar im 18. Jahrhundert bei der Klassik, hingegen Handke im 19. Jahrhundert beim Biedermeier.

Aber bevor ich meinen Gaul weiter übers Feld jage, muss ich doch auch kenntlich machen, dass ich überhaupt auf einem Gaul sitze, da man sonst zu gute Laktatwerte von mir, meinem Tier, erwarten könnte. Die literaturhistorischen Labels nämlich, mit denen ich operiere, sind von Skorbut geplagt und wenig beißkräftig. Plattitüdenhaft kann man Charakterisierungsversuche unternehmen und einzelnen Epochen Attribute oder Autoren zuordnen, zum Beispiel der Klassik des 18. Jahrhunderts Leichtigkeit, Ironie, Klarheit im Satzbau, Welthaltigkeit und Extraversion in der Themenfindung und im gesamten intellektuellen Duktus, wie man sie bei Fielding, Sterne, Diderot, Voltaire, Wieland, Goethe ahnt; handkehrum Schwere, Ernsthaftigkeit, Umständlichkeit im Satzbau, Rückzug ins Detail der Kleinbürgerwohnung und Introversion dem Biedermeier und seinem Meister, Adalbert Stifter. Aber selbstverständlich werden sich für viele Kriterien Gegenbeispiele und für viele Autoren andere Epochenzuweisungen finden lassen. Goethe zum Beispiel ist ein echtes Schnabeltier, Klassiker aber auch Vorgänger des Biedermeier. Trotzdem werden diese Plattitüden hier, aus Faulheit und Einfallslosigkeit, Verwendung finden. Nehmen Sie bitte den Gaul als Geschenk meinerseits an, und behandeln Sie ihn entsprechend gütig.

Hoppe also schwingt sich von der Klassik beflügelt klassizistisch durch die Luft. In Hoppe ist ihre Prosa ist durchlässig, anscheinend substanzlos, ihre Figur saust durch die ganze Welt wie Voltaires Candide oder Johnsons Rasselas, alles steht auf Aufbruch aus der Heimat, leicht flügge geworden und auch im Ernst mit dem Helium der Ironie gefüllt. Mit Handke sammeln wir dagegen die Außenwelt ein, um sie in unseren Wohnzimmern aufzustellen, in Ruhe ernst zu betrachten, abzustauben, recht geordnet, von allen Einflüssen abgeschirmt, toten Schmetterling auf toten Schmetterling, glasierten Stein auf glasierten Stein, Pilz auf Pilz, dass die ganze Welt als kontrollierbare Miniatur vor uns steht, vom Kopfkissen aus sichtbar, als meine materialisierte interferenzfreie Gedankenwelt, in der jeder Schritt bedeutsam vor jeden Schritt gesetzt werden kann, weil luftdicht isoliert wurde. Handke also stapft vom Biedermeier beschuht durchs Wiesengras und frönt dem Biedermeierismus.

Im Panoramabild der zeitgenössischen Literatur stehen Klassizismus und Biedermeierismus vor allem der Postmoderne im engeren Sinne gegenüber, wie sie sich Setz oder auf ihre Weise auch Jelinek in der Tradition von Gaddis, Pynchon, Wallace und in der bewussten erblichen Nachfolge der Moderne erschreiben. Wenn wir den Klassizismus, der seine Arbeit als Kontrastfarbe geleistet hat, scheiden lassen, kann man fragen, wie sich Handkes Biedermeierismus in diesem Panoramabild ausnimmt. Zunächst kann man schon einmal festhalten, dass er sich wirklich ausnimmt, das heißt, dass er sich eine introvertierte, auf die Außenwelt nicht achtende, aber eine in aus sich heraus allem überlegene Einkehrung geordnete Position zuschreibt. Dazu passt der Versuch über den Pilznarren schön, die Geschichte eines Mannes, der "in die Pilze geht" und sammelnd die Welt über seinen Wüchslingen vergisst, bis Frau und Kinder ausziehen und er ganz allein in seiner Neurose hausen kann. Dieser eine Biedermeier, der Pilznarr, wird vom zweiten Biedermeier, dem Erzähler, idealtypisch dargestellt: 

Der Zwischenraum, wo er, so sein Wort mit der Zeit, "lagerte" und seine Gerichtsauftritte vorbereitete, wurde zugleich, wieder sein Wort, "simultan", sein Auslug-Sitz zu seinen Zeitgenossen. Das war beileibe keiner von den Hochsitzen, wie er und ich sie von den heimischen Waldrändern kannten, eher Hochstände, die oft bis in die Wipfel der Saumfichten reichten, für die Jäger und Heger, gegebenenfalls auch für Liebespaare. Und trotzdem, auf ebener Erde in dem Zwischenraum, als seinem höchsteigenen Bereich, wenn nicht Reich, lagernd, war ihm, als säße er erhöht über den Leuten, die im Lauf seiner Arbeitsstunden den Wald bevölkerten. (s. 107)

Der Erzähler ist nicht der Autor und seine Figuren noch viel weniger, aber der Stil ist zuletzt seiner, das Biedermeier dem Text mit Absicht vom Autor eingeschrieben, und im Falle Handkes seit Jahren. Man sollte also nicht von reiner Satire ausgehen. Aber was soll man dann von diesem verschwurbelten, betulichen Stil und Thema halten, diesem Anachronismus, dieser Weltentzogenheit und lächerlichen Ernsthaftigkeit? Zunächst: Handkes Biedermeierismus ist äußerst radikal und bewusst als radikal gesetzt. Handke hat sich entschieden so zu schreiben, und er weiß natürlich auch, wie schief in der Welt seine Prosa steht. Diese Literatur ist viel radikaler als die meiste vermeintliche cutting-edge-Schreiberei über Kindersoldaten in Afrika, viel ungewöhnlicher und mutiger, gerade weil sie allem Reißerischen sehr fern steht (sie steht ja allem sehr fern). Sie ist auch formvollendet, ihr Stil perfektioniert und durchwegs aufrechterhalten. Nicht einmal vollkommen ironiefrei ist sie, denn immerhin ist der beschriebene Biedermeier ein Narr, erbärmlich und vollkommen gescheitert. Aber gut, der Kleinbürger ergötzt sich ja auch gerne an anderen Kleinbürgern, die, anders als er, ihr Wohnzimmer tragisch eingebüsst haben. Der Text bleibt also, trotz der Anflüge von Ironie, weihepriesterlich lächerlich; nur meine ich das gar nicht sehr negativ. Stifter, einer meiner Hausgötter, ist der in beiden Sinnen des Wortes komischste Schriftsteller der Welt, erheiternd in seiner Spießigkeit, aber auch beeindruckend in seiner Konsequenz. Handke geht es recht ähnlich, und darin zeigt sich natürlich auch wieder die Perfektion seines Biedermeierismus. Wir lachen gegen seine Literatur, denn wir sind ja viel welthaltiger und ironischer, aber wir lachen herzlich, mit Jandl, ein herzliches küssdiehandke.

Freitag, 6. Dezember 2013

Lieber Archimedes... - Zu Brigitte Kronauer

Brigitte Kronauer, Gewäsch und Gewimmel, Klett-Cotta 2013.

Es ist das Reizkorn im Fleisch dieses Romans und Grund seiner Vollendung, dass er keinen fest bestimmten Ausgangspunkt, keine Leitplanken vorfindet, sondern sich alle Richtungen und Regeln ertasten muss. Abseits von Gattungsnormen, auf die man sich als Hölderlin noch so schön werfen konnte, von Vergil sei gar nicht die Rede, und abseits eines Existenzdranges, dies mein Buch mein Leben!, dem sich Kafka und Musil entlangranken konnten, will man schreiben. Nur woher und wohin? Kronauer greift die Frage bei den Hörnern und schraffiert sich elegant und klug einer Antwort entgegen.

Sie beginnt, im ersten Teil, mit verstreuten Vignetten diverser Patienten einer Krankenpraxis, greift im zweiten Teil eine Patientin, Luise Wäns, heraus, um ihr Raum zum Ich-Narrativ zu gewähren, und löst diesen kompakten Erzählkomplex zuletzt, im dritten Teil, in ein weiteres Vignettengeschwader auf. Beiläufig erscheinen und verschwinden die Akteure, zusammengehalten nur von einem gemeinsament Bezugspunkt, Elsa, der Therapeutin, deretwegen sie in die Praxis tropfen, und auch dieser Bezugspunkt führt die Stränge, die Personen, eher aneinander vorbei als sie zu verflechten. Weder am Anfang noch am Ende des Romans haben die Protagonisten etwas miteinander zu tun, außer dass Elsa ihnen begegnet und sie bedenkt. Wir stehen also vor einem in sich auf- und abtauchenden Sammelsurium von Episoden aus diesem oder jenem Leben, ohne an einer länger haften zu bleiben. Schließlich fächert sich zwar die Episode aus Luise Wäns' Leben breiter auf als alle anderen, aber bedeutender als jene ist auch sie nicht. Alle Figuren des Romans sind betont uninteressant, ihr Auf- und Abtauchen nimmt man kaum wahr, und was sie über sich erzählen oder über sie erzählt wird, ist vernachlässigbar: ein Gewäsch über ein Gewimmel.

All das wäre langweilig, wenn es nicht so bewusst zum narrativen Prinzip erhoben wäre. Nichts an diesem Buch ist zwingend. Wenn man mir erlaubte, die abgewetzten Prädikate aus der Besenkammer zu holen, würde ich sagen: weder formal noch inhaltlich. Kronauer hätte auch irgendwo anders anfangen können als in Elsas Praxis, mit anderen Figuren. Sie beginnt den Roman treffend mit lapidaren Fragen: Pratz, der Schwerenöter? Frau Wäns? Der gute Mensch und Plattfüßler Dillburg? Ja, die könnten es alle sein, ja, die hätten es auch alle nicht sein können. Der lange Mittelteil ist Luise Wäns gewidmet. Warum? Man weiß es nicht und soll es nicht wissen. Ob man aus dem Gewimmel den oder die herausgreift, da nun mal nichts ist als Gewimmel, kann man ja auch einfach den hier nehmen oder die da. Und genau das tut Kronauer. Auf dem weißen Blatt Papier schraffiert sie irgendein Fleckchen, dann ein anderes und immer munterer von hie nach da bewegt sich der Bleistift, bis er unvermittelt einen Kreis genauer abfährt, immer immer wieder, um sich dann von Luise Wäns doch zu lösen und erneut locker da und dort ein wenig Graphit abzusondern. So skizziert man aus der Beliebigkeit heraus die Beliebigkeit akribisch genau.

Soweit, einstweilen, zur Form. Dieselbe Beliebigkeit prägt selbstverständlich auch den Inhalt der angetroffenen Leben. (In der Besenkammer verschmelzen ja immer und andauernd Form und Inhalt.) Warum die eine den anderen heiratet oder nicht heiratet, diesen Hund besitzt oder jene Katze, sich für Blumen interessiert oder Steine, ach, wer weiß warum. Es ist die Austauschbarkeit des biederen Lebens (meines Lebens). Eine besonders schöne Metapher für diese Biederkeit findet sich im Luise-Wäns-Teil, der ausschließlich in einem Naturschutzgebiet spielt, und zwar in einem, wo nicht spektakuläre Gletscher und Steinböcke geschützt werden, sondern Tümpel und Unken. Das entsetzlich Durchschnittliche konzentriert sich allerdings nicht so sehr in den Unken als im Schöpfer der Moorlandschaft: Hans. Hans ist der B-Promi dieser Tümpelwelt, der strahlende Mittelpunkt des sozialen Lebens und ein chauvinistischer Spießer mit eher unterdurchschnittlicher Intelligenz. Luise Wäns, man erinnere sich, die Ich-Erzählerin dieser Episode, ist leider in ihn verliebt, ihre Tochter ebenso und scheinbar alle anderen Lebewesen aus dem Tümpel auch. In den begeisterten Exaltationen des Renaturierungsgenies Hans seitens Rentnerin Wäns tut sich der ganze Abgrund der Beliebigkeit dieser Leben auf: Wenn einer wie Hans zum Himmlischen aufsteigt, könnte es jeder und hätte es jeder gekonnt. Zufälligerweise ist es, im Narrativ und im Leben der Tümpelbewohner, er geworden, Hans.

Nichts an diesem Buch ist zwingend. Das gilt auch für die Sprache. Die Schraffur ist in Fontaneschem Plauderton gehalten, kein Satz ist für sich ausgefeilt, eher, äußerst gekonnt, hingeworfen, Ironie durchzieht die meisten Absätze und bricht das bisschen Gewicht und Bedeutung, das durch ab und an doch zu künstlerische Sätze evoziert wird. Zum Beispiel:

Heute will Herbert Wind es wissen, Herr Wind, der sich im Winter so gern Gebirgsgipfel im Schneesturm ausmalt, bevor jemals irgendeine Menschenseele dort oben gewesen ist. Auf zur großen Tagestour! Da ist er sicher viele Stunden unterwegs, bestimmt acht werden es schließlich sein, selbst wenn er nur kurze Pausen macht. Er hätte nicht übel Lust, in einem Rutsch von den Pyrenäen bis zu den Karpaten zu wandern.
Es trompeten die Berge, es musiziert der Bach. Wie ein Gänseblümchen steht eine kleine Kirche auf der Wiese und öffnet sich weit der Sonne, gemeint ist aber die Unendlichkeit. Man kriegt schon Heimweh nach der Landschaft, noch während man hindurchgeht. Einmal sieht er eine Alte im Bergwald, die sich zu grün-gelblichen Pflanzen hinunterbeugt. Sie bemerkt ihn nicht, ruft nur für sich: "Meine Güte! Waldwachtelweizen. Und da drüben: Klappertopf!" Donnerwetter, die kennt sich aus. Er hat plötzlich Lust, sich zu kämmen, und holt den Taschenspiegel raus. Da sieht ihn ein Firnspiegel an. Es ist ja aber sein persönliches Gesicht, wie es glänzt in Freude und Schweiß. Insgesamt ein herrlicher Tag. (s. 544)

Herr Brück hat Frau Dillburg zu einer Fahrt ins Grüne eingeladen und ihr gestanden, dass er seit dem Tod des Hundes Rex Brück oft von einer Gegend träumt, in der die Tiere keine Angst vor den Menschen haben, und dass er alle zwei Tage ins Fitness-Studio geht und ein kleines Hörgerät trägt. Sie aber trägt ihr neues Kleid. (s. 436)

Aber eben, was auf sprachlicher Ebene besonders deutlich wird, gilt auch auf inhaltlicher und formaler: Die Beliebigkeit, das, was ich das Skizzierte oder Schraffierte genannt habe, ist nicht das Ergebnis mangelnden Könnens oder fehlender Überzeugung, sondern, im Gegenteil, eleganter Meisterschaft und einer ganz bestimmten Überzeugung: Dass das Wesentliche im zunächst vollkommen Irrelevanten steckt und durch eine an dieser Irrelevanz geschulte Ästhetik hervorgelockt werden muss. Alles schwebt irgendwo in der völligen Beliebigkeit, doch dann... erhebt sich der Kinderschänder im Kindergarten! Nein, eben nicht: Die Beliebigkeit wird ernstgenommen und dadurch nicht nur zum zufälligen Anfang, sondern wirklich zum archimedischen Punkt, aus dem der Roman und die Welt gehoben wird. Denn Kronauer stellt sich mit ganzem Gewicht auf diesen Punkt, weicht kein Stück weit von ihm ab, lässt sich nie und auf keiner Ebene aus der Beliebigkeit drängen, und liefert so ein Porträt der Beliebigkeit selbst und im Porträt eine fragmentarische, zufällige eben, Darstellung der Welt. Das ist das einzig Zwingende hier, dass sich die Autorin nicht in den unrealistischen Anspruch "zwingender" literarischer Auswürfe zwingen lässt. Die Beliebigkeit des Beschreibens und Betrachtens der Welt wurde selten so klug und schön vor Augen geführt. Das Problem des fehlenden Ausgangspunktes eines Romans in absentia eines überwältigenden Dranges aus der Konvention oder gegen sie wird zum Problem der zu konfrontierenden Welt gemacht und dadurch selbst zum Ausgangspunkt. Wir haben, für sechshundert Seiten zumindest, ein pou sto in der Postmoderne gefunden, im Vignettengeschwader von Gewäsch und Gewimmel.

Samstag, 21. September 2013

Angela Merkels Gesicht - Zu Norbert Gstrein

Norbert Gstrein, Eine Ahnung vom Anfang, Hanser 2013.

Oswald Wieners 1969 erstmals in Buchform erschienene verbesserung von mitteleuropa, roman wurde kürzlich bei Jung&Jung wieder aufgelegt, bestimmt das beste Buch der Welt: sollten jedoch folgende gespenster unter den anwesenden ausgemacht werden: k.l., chefredakteur h., w. d., e. t., miss austria 19 .. oder manager r., g. b., ing. w., präs. h., der schah von persien, blonde hünen, sitarspieler, jazzer, r. b. oder p. a., ing. s., h.-l., physiker, schnorrer, goscherte weiber, dichter, epileptiker, konstrukteure und designer, architekten, volvofahrer, bayern, provinzler, pariser, surrealisten, studenten, und ähnliches - so soll der regisseur zum walkie-talkie greifen und meldung erstatten. ich komme dann sofort, "auf allen flügeln des hasses", hol mich der teufel, und hau sie in die goschen, haus all die in die goschen wie ein maniak und hol mich der teufel, das wird der grösste intellektuelle genuss meines lebens sein. (vvm CXIII)

Norbert Gstreins neuer Roman ist hier und heute erschienen (siehe oben), ein Roman, kein , roman, aber ein kluger und souveräner Text. Erzähler ist ein Deutschlehrer in der österreichischen Provinz, sein Objekt ein ehemaliger Schüler, der zwischen Literatur, Mathematik und Birkenstockreligiosität seine Exzentrizität kultiviert und unter dem Verdacht der Bombenlegung à la Camus' Les justes steht. Zur Probe:

diese frau ist von meiner rasse, ja erbarmungslos.
ich pudere orkane, nun allerdings ist das meine beziehung zur natur - von diesem vorhandenen schwanz streife ich das erdbeben wenn es da ist, macht das deutlicher, was ich jetzt sagen werde;
da ist ein stück haut damit berührt sie meinen arm, krachend verfällt - verneige ich mich - wahrscheinlich ein gebirge, menschen kommen um: die elemente kochen, in böhmen geht ein viertel ein.
ach! sagt einer, es sind so viele metaphern. - du arsch; hörst du engel reden?, ich schreibe für engel du arsch;
höre! in dieser fut ist tao -

Nein! Welch Verirrung! Das ist natürlich nicht Gstrein; Wiener hat unvorhergesehen überhandgenommen (hymne an den erzengel, vvm LV). Ich zerfalle in Proskynese dem Kunden und bringe ein echt Gstreinsches Klangbeispiel dar:

Die Idee klingt widersinnig, der Reverend sei so weit gegangen, seine eigenen Töchter als Köder zu benützen, um mir die beiden Jungen abspenstig zu machen, auch wenn sich das in Daniels Manuskript nicht nur zwischen den Zeilen so liest. Wenn ich wollte, könnte ich spekulieren, ein unter den Augen des strengen Vaters geklauter Kuss, eine verstohlen in ein Höschen geschobene Hand und was der Versatzstücke mehr sind, aber es ist egal, ob es so war oder nicht, es hat keinen Sinn, sich Gedanken zu machen, und führt nur ins Melodramatische. Dass mich der Reverend nicht mochte, war nichts Neues für mich, beruhte, wie man so sagt, auf Gegenseitigkeit, aber dass sein Reden von der Verdammnis sich so direkt auf mich bezogen haben soll, überraschte mich doch. Natürlich erinnerte ich mich an sein Verdikt, der Kampf um Jerusalem sei ein Kampf um jeden einzelnen Menschen, aber dass er damit den Kampf um die beiden Jungen gemeint haben könnte und er es als seine Pflicht ansah, sie vor mir und meinem Einfluss in Sicherheit zu bringen, weil ich für sie das Verderben war und sie zu unaussprechlichen Sünden und einem Leben in Schimpf und Schande verführen würde, kam mir nicht nur der Formulierung wegen wie eine schlechte Erfindung vor. (s. 165)

Nun, im Rückblick ist die missliche Verwechslung Gstreins mit Wiener doch ganz hilfreich. Zwei Prosastücke könnten nicht unterschiedlicher sein, und daran lässt sich ablesen, worin Gstreins Kunst besteht, sowie, woran es ihm mangelt. Zunächst zum Positiven: Der Roman ist sehr gutes Handwerk, beinahe makellos. Brüche und Ungeschicklichkeiten finden sich kaum. Natürlich ist Wieners Text auch gut gemacht, viel besser noch als Gstreins (dazu später mehr), aber im oberflächlichen Sinn der Handwerksausübung kann die aus allen Fugen gebrochene vvm schwer als ideales Vorbild zur Romananfertigung dienen, während Eine Ahnung vom Anfang genau das ist: ein vorbildlich verfasster Roman.

Die Klugheit des Texts zeigt sich makroskopisch in der Erzählanlage. Vermeintlich ist die Hauptfigur Daniel, der exzentrische Schüler des Erzählers, der bei ihm gemeinsam mit einem Freund einen Sommer in seinem Haus am Fluss verbringt. Um Daniel kreisen die Gedanken und Ängste des Texts, der Zorn usw, und was er getan haben oder noch tun könnte steht im Zentrum. Aber natürlich ist Daniel keineswegs die Hauptfigur. Die Hauptfigur ist der Erzähler. Ihn beobachten wir, seine Erlebnisse und Überlegungen interessieren uns, und er steht am Ende vor uns da. In den letzten paar Jahrhunderten hat sich eine ganze Parade an verspiegelten Ich-Erzählern, in die wir eintauchen!, mit denen wir leiden!, die WIR sind, durch die Saisons gequält, bis sie zum Klischee und ihre Introspektion zum Kitsch wurden. Gstreins Kunstgriff ist so einfach wie überzeugend: Er lässt den Ich-Erzähler zu, er lässt die Introspektion zu, er erlaubt uns, an das Ich nahe heranzutreten, aber er vermeidet die Stereotypie dadurch, dass die Introspektion nur indirekt zur Betrachtung des Erzählers führt, nur in den Augen der Leser nämlich, während das Fokalobjekt des Ichs selbst stark und aufdringlich Daniel bleibt.

Mikroskopisch ist Gstrein ebenso geschickt. Seine Sätze sind lang, aber nie zu lang. Die Nebensatzkonstruktionen werden variiert, aber nicht übermäßig, und wohltariert in Harmonie zum Abschluss im Gesamtsatz gebracht. In der Passage oben könnte man eventuell den Nachsatz "und führt nur ins Melodramatische" anzweifeln, weil er Gefahr läuft, den Satz am Schwanz brechen zu lassen. Aber auch er ist verteidigbar, da er den etwas luftleer hängen gebliebenen Satzteil "es hat keinen Sinn usw" ausbalanciert. Ebenso bewusst verwendet sind die einzelnen Worte. Kaum eines steht zufällig da, Phrasen werden nur im mention, nicht im use zugelassen, und insgesamt bildet Gstrein keine Hohlsätze, die man so an jeder Straßenecke findet. Etwas verdächtig ist oben nur der Einsatz von "geklaut", der zu umgangssprachlich ist, um ins Gefüge zu passen, und zudem gegenüber "gestohlen" keine relevante Bedeutungsnuance herstellt. Selbstverständlich will Gstrein der plumpen Wortdoppelung mit "verstohlen" aus dem Weg gehen, aber da das schiefe "geklaut" nur durch die Hintertür wieder zu derselben führt und Plumpheit im gleichen Ausmaß anrichtet, wäre die Kombination "gestohlen", "heimlich" wohl besser als "geklaut", "verstohlen." Aber eben: Dass solche Lappalien überhaupt auffallen, zeigt, wie gut gebaut der Text im Grunde ist.

"Gutes Handwerk", "gut gemacht", "gut gebaut": Ich meine das nicht spöttisch. Besonders wenn man sich gerade durch Kehl- und Hegemann geschleppt hat, steht Gstrein als Dattelpalme dem hungrigen Kamel da. Endlich darf man sich einem Text wieder übergeben und muss nicht bei jedem Schritt fürchten, dass der führende Autor eine Gletscherspalte übersehen hat. ach! sagt einer, es sind so viele metaphern. - du arsch; hörst du engel reden? Nur, "gutes Handwerk" ist natürlich kein vorbehaltloses Lob. All das kann Wiener auch - und noch viel mehr. Wiener spielt mit hundert Registern; vom Aphorismus über den Tagebucheintrag und das Theaterstück bis zum ernsthaften, aber parodistischen akademischen Essay beherrscht er, innerhalb eines Buches, alles. Dabei ist, genauso wie bei Gstrein, oder sogar noch mehr, kein Wort, kein Nebensatz, kein Abschnitt dem Zufall überlassen, oder wenn, dann absichtlich. Wiener ist Gstrein unendlich überlegen, aber warum? Vielleicht liegt es zuletzt doch an der höheren Handwerkskunst, aber das ist schwer zu beurteilen, da Gstrein nur einen Stil aus einer Perspektive schreibt, und vielleicht, wer weiß, ebenso viele zur Anwendung bringen könnte wie Wiener. Wie dem auch sei: Viel wichtiger ist, dass Wiener Mut hat, wo er Gstrein fehlt, dass er etwas tut, wo Gstrein nichts tut, dass sein Buch Leben hat, wo Gstreins gelangweilt in der Hängematte liegt.

Denn eigentlich ist Eine Ahnung vom Anfang vom Titel über die Erzählung bis zur Prosa belanglos und austauschbar. Wo ist hier der Funke, das Eigenständige, das Experiment? Gut und brav und vorhersehbar. Eine Musterschülerin, gerade so weit begabt, dass sie, zum Glück!, langweilig und pflegeleicht bleibt. Kein entglittener Satz, kein entglittener Gedanke, kein entglittenes Wort. Alles ist unter Kontrolle; weil sich nichts ereignet. Der Roman steht so da und guckt, verzieht ein wenig die Mundwinkel, ja, oder fährt die Hand langsam aus. Aber sonst tut er nichts; es gibt ja nichts zu tun; es geht uns allen so gut! Da würde jede Tat, jedes abnorme Zucken nur stören. Im Dämmerschlaf sind wir glücklich, und deshalb: Wählen Sie die Union. die verbesserung von mitteleuropa trägt den Furor hingegen schon im Titel in sich, sie ist ein invektiver Schüttelbecher: und große Literatur. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Schrifsteller als intellektuelle Durchschnittsware zu produzieren, Schrebergarten- oder Hotelfoyerliteratur, aber genau das ist leider Gstreins Roman, bei aller handwerklichen Meisterschaft. Wir sehen Angela Merkel ins Gesicht und denken: Was wäre möglich gewesen, wenn sie nicht nur rumgestanden, sondern auch etwas getan hätte? Vielleicht nichts. Vielleicht viel. Aber sogar der kläglichste Versuch wäre inspirierender und respektabler gewesen als dieses überzahme Herumgedruckse.

Donnerstag, 12. September 2013

Agamben anal - Zu Helene Hegemann

Helene Hegemann, Jage zwei Tiger, Hanser Berlin 2013.

Will man Verrisse schreiben, muss man schlechte Bücher lesen und damit für die Boshaftigkeit, von der man sich lenken lässt, Buße tun. Ich stehe also als Büßer in der Manege, als einer allerdings, der bereits gebüßt hat und jetzt loslegen darf. So beginnt eine Expedition aus dem reinlichen Manegensand in klebrig-kotigere Gebiete. Denn in Hegemanns Roman betreten wir den homo sacer von hinten und erleben ihn von innen; wir befinden uns in Agambens Darmtrakt. Sehen wir also, welche Flora und Fauna uns begegnet! Die Machete ist bereit.

Schachtelsatz. Auf allen Feldern und sogar noch im Unterholz blüht der Schachtelsatz. Spezifiziert handelt es sich um den Schulaufsatzschachtelsatz, wie ihn der Duden zur Pflege empfiehlt. Fürs Herbarium: Er brachte sie in einem gemieteten Landrover in die Nähe des Hotels, in dem Gloria bereits schlief, und nahm während einer unausgegorenen Verabschiedungsgeste den Anruf seiner Frau entgegen, die sich gerade das kobaltblaue Kleid übergezogen und in Würde hingenommen hatte, dass ihr Mann nicht nach Hause gekommen war. (s.71) Man wundert sich ein bisschen ob der ubiquitären Vorkommnis dieses Gewächses. Ein Roman, der in seiner Intention vor Witz und Geilheit kaum an sich halten kann, sollte sich wohl eher nicht von so altväterischem Kraut nähren. Die Bitterkeit im Geschmack des Schachtelsatzes rührt vor allem von seiner attributiven Qualität her und wird durch die Überdosis an Adjektiven gesteigert. Ach, jedem Nomen eine Qualifizierung, wozu? Diese Sätze schwanken langfädig und ziellos durch die Gegend.

Engel u. Mistkäfer. Scheiße muss mindestens in jedem dritten Satz vorkommen. Ansonsten würde nicht klar, wie abgefuckt alles ist. Jede Figur, inklusive des Erzählers, ist ein abgefuckter Mistkäfer mit Scheißdrall. Das ist dann doch auf die Dauer, nach zwei Seiten, etwas öd und leer, und zwar nicht in dem Sinn, dass die Ödnis der Figuren und die Leere einer Welt ins rechte Licht getaucht würden, sondern nur im Sinn einer narrativen, ästhetischen, handwerklichen Wüstenei. Englische Stimmen säuseln zudem aus allen Zweigen: Family, whatever und so, Milieuwortschatz halt unter Engeln. Der Matrose sagt ja auch immer Ahoi.

Harald Schmidt. Harald Schmidt kommt nicht vor. Aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, um einige verstreute Anspielungen zu bündeln. Hegemann war nach Veröffentlichung von Axolotl Roadkill in der Harald-Schmidt-Show zu Gast, wobei sich herausstellte, dass bei ihr v.a. zwei thematische Schwerpunkte herrschen: Arschfick und Agamben. In ersteren muss nicht theoretisch eingeführt werden, in letzteren vielleicht schon eher, obwohl weder Hegemann noch ich, selbstverständlich, Agamben gelesen haben, es geht nur um den Brand. Das Hauptprodukt des Brands ist der homo sacer, der entrechtete Mensch in Zwischenräumen der Jurisdiktion, z.B. Häftlinge in Guantanamo. Und kennen wir das nicht alle? Nach dreißig Cocktails schaffe ich es einfach nicht mehr, mich abzuschminken, und krümme mich unter der Bettdecke, ein Opfertier des Systems, das die Welt bedeutet. Das ist der homo sacer aus Berlin Mitte. Die restlichen Assoziationspunkte möge der Leser selbst numerieren und verbinden, und er wird sehen: Es wird ein Schuh daraus.

Jammerlappen. Diesen Schuh brauchen wir, um durch all die Jammerlappen zu stapfen, die wie ein Geäder aus rotem Teppich die Wege im wilden Darm weisen. Und das wäre die Stärke des Texts! Satire. Selbstverständlich sind all diese Mistkäfer und Engel mit szenigen Tattoos usw Parodien in ihrem Gejammer. Leider ist der Roman aber auch eine Parodie seiner selbst, ein bemühter Versuch, satirisch zu sein, und dabei genauso jammervoll wie Gloria und Samantha: Denn wenn etwas noch abgegriffener ist, als sein Kind Samantha zu taufen, dann, einen Roman über Leute zu schreiben, die ihr Kind Samantha taufen könnten, und das Kind dieser Leute Samantha zu nennen. Genauso lächerlich, wie der Versuch der Protagonisten cool usw zu sein, ist der Versuch des Roman diese versuchte Coolheit (in Coolheit) darzustellen. Wir stehen eben wirklich nicht vor dem homo sacer, sondern in ihm.

Sumpfboden. Der Roman ist zäh. Kein Schritt gelingt, der Schuh nützt uns nichts, man sinkt ein. Der Roman ist langweilig. Die Syntax ist spießig gebaut, die Handlung ist spießig geil, kein Wort hat Witz, kein Satz Elan. Man schleppt sich bei fünfzig Grad und neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit durch die Seiten. Die lethargischen, quengeligen Langweiler werden lethargisch und quengelig in Langeweile betextet. Das Opfertier blickt sich selbst im Spiegel an.

Das Grundproblem dieses Textes ist schlicht, dass zu wenig gefickt wird. Da klafft Agamben vor dir, und du haust nicht mal Goethes Pfropf rein! Stattdessen ein Herumtapsen mit Wurstfingern. Jage zwei Tiger ist der spießigste Roman seit Narziss und Goldmund und anal nur in einem Sinn: verklemmt. (Doch Friede sei mit dir!, ich möchte bedingungslos mit dich däncen, Helene, melde dein!)

Samstag, 7. September 2013

Ein Gähnen für die Badewanne - Zu Daniel Kehlmann


Daniel Kehlmann, F, Rowohlt 2013.

Die ästhetische Gegenreformation rollt - wie eine Murmel dem Randstein entlang in den Gully. Neu zu erzählen! lautet das Postulat der Bewegung und ihres Bewegers Kehlmann, sich nicht mehr in der Sprache zu verlieren, sondern wieder einfach zu erzählen. Nur, gegen welche Reformation richtet sich diese Gegenreformation? Sie agiert, als ob die Literatur so grundsätzlich experimentell reformiert worden wäre, dass Zettel's Traum heutzutage zum Mainstream gehörte. Nichts aber entspricht der Realität weniger. Immer schon, und in den letzten zwanzig Jahren sowieso, war die überwältigende Mehrheit der Literatur Hausmannskost mit braven Plots, braver Syntax und braven Ideen. Es gab keine Reformation, und es gibt keine Gegenreformation. Alles was Kehlmann tut, ist, dem Haufen an mediokrer Banalprosa weitere Masse zuzuführen. Das ist weder revolutionär noch radikal oder geistreich, sondern - brav.

Kehlmann, wie Federica de Cesco, schreibt für die Badewanne. Deshalb bin ich hier als Rezensent in einer schwierigen Lage. Denn erstens bade ich selten, und zweitens habe ich zu Asterix und Lucky Luke für die wenigen Badefälle über lange Jahre ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, das ich ungern störe. Natürlich bade ich oft literarisch, aber dann bade ich in Literatur, nicht mit ihr (in Jelineks Ätzlauge, nicht mit ihr in der hohlen Hand), und bade ich mit ihr, dann bin ich eben besetzt. Ich habe also verzweifelt versucht, F außerhalb der Badewanne zu lesen, im Garten, im Ohrensessel, aber bei Abwesenheit benebelnder Dämpfe war für mich einfach kein Umgang mit dem Buch.

Ich lese Wortabfolgen wie Seit einer Dreiviertelstunde warte ich. Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin, aber da die Klimaanlage funktioniert, ist es mir ganz recht. Die Hitze drückt gegen die Fenster, die Luft draußen ist vollgesogen; unwillkürlich frage ich mich, ob die Scheiben halten werden. Ich nippe an meinem Pappbecher mit Kaffee (s. 107). Tja. Halbwegs sauber geschrieben, sauber lektoriert, aber wozu soll ich das lesen? Ich raffe mich wieder auf, sage mir, dass die Sprache ja nur ein Vehikel für die Geschichte sein soll, und versuche mich an der Geschichte. Ich lese von drei Reißbrettbrüdern, einem schwulen Künstler, dicken Priester, scheiternden Geschäftsmann, mit einem noch papiereneren Vater, Schriftsteller, und verzweifle erneut. Ich raffe mich wieder auf und sage mir, dass die Geschichte ja nur ein Vehikel für die Spannung sein soll, die mich zum Umblättern bringt. Ich blättere also fleißig um und schaue mir danach den Umschlag an. Ja, so geht's. Leider lese ich dann im Klappentext, es handle sich bei diesem Roman um ein "virtuoses Kunstwerk", und dunkel steigt die Ratlosigkeit vom Himmel.

Nun gut, wie gesagt, ich bade selten und bin vermutlich nicht im Zielbereich des Autors. Ich war dieser Tage auch sehr beschäftigt, da ich unbedingt einen Obstkuchen backen und Jirgls Nichts von euch auf Erden zum dritten Mal lesen musste. Vielleicht habe ich Kehlmann also unrecht getan. Oder vielleicht gerade recht. Das Hauptproblem des Romans ist jedenfalls folgendes: Fürs Bad bestimmt ist sein bester Teil der Umschlag, doch der Umschlag, wie gefährdet ist er nicht durch den Schaum!  Es droht die Vernichtung des Badebuchs im Bad! Von solchen Sorgen umgetrieben habe ich nicht eher geruht, als dass die Lösung gefunden ward: Man hefte den Umschlag mit imprägnierendem Schutz an die Wand und versenke den umschlaglosen Restroman getrost in den Wogen.

Sonntag, 25. August 2013

In diesem Garten wird Kohle gefördert - Zu Reinhard Jirgl

Reinhard Jirgl, Nichts von euch auf Erden, Hanser 2013.

Ein Schwan guckt über den Horizont und sieht mir zu, wie ich meinen Hund schamponiere. In allen modert Rührung, und salzige Kaulquappen hüpfen aus unseren Augen, um als Seifenblasen durch die Atmosphäre zu steigen, wo sie sich auf den Brustwarzen der Milchstrasse niederlassen, ruhig vorsichhinzitternd wie demente Urgroßväter in ihren Schaukelstühlen. (Indulgation)

Reinhard Jirgl hat einen Zukunftsroman geschrieben. Einen ausgeprochen säkularen, kann man dazu sagen. Nicht nur sind die Engel, die durch die Wolkendecke fahren, äußerst weltlich, in dem Sinne, dass sie Lebewesen wie Menschen sind, sondern, noch weltlicher, sind sie Menschen, Menschen von dieser Welt: ehemalige Marsauswanderer nämlich, die nun zurück auf die Erde kehren, um dieser ihr Leben aufzuzwingen. Gleichzeitig wird das Säkulare biblisch konterkariert, da die marsianische Erdexpedition den Namen E.S.R.A trägt, nach Esra, dem "Schriftgelehrten, bewandert in der Weisung Mose" (Zürcher Bibel, Esra 7.6), der von Artaxerxes aus dem babylonischen Exil nach Israel gesandt wurde, um dort "Satzung und Recht zu lehren" (7.10). Wie Esra kehren auch die marsianischen Exilanten zurück ins Stammland und belehren die Zurückgebliebenen. Diese Belehrung besteht in erster Linie aus Fortpflanzungsdoktrin, auch dies wie bei Esra, der sich hauptsächlich mit dem Problem der Mischehe befasste. Denn die Erdbewohner, zumindest die Europäer, von denen der Roman handelt, haben sich der "Detumeszenz" verschrieben, der Abschottung von der Welt und der Fortpflanzung, und warten reglos in Frieden auf den Tod. Von den Marsianern werden sie nun mittels rabiater Impfungen wieder zur Regung animiert.

Soweit der Rahmen. In diesem Rahmen bewegt sich ein junger, verliebter Ich-Erzähler, der, als geimpfter Europäer, bald auf den Mond reist, um dort ein Arbeitslager zu überwachen, dann auf den Mars, wo er selbst in Turbulenzen gerät (wobei er auch eine lebende Gans essen muss), bis er am Ende auf die Erde zurückkehrt, ohne (vermutlich) seine frühere Geliebte zu finden, dafür aber, um zu beobachten, wie der Mars in Magmaströmen auseinanderbricht, sein Mond Phobos auf die Erde zurast -; nun, mehr beobachtet er nicht, aber "die Bücher, die nur für Bücher schreiben" (465; übrigens "morfologische Bücher", siehe die Assoziation weiter unten, die den "Roman einer Zukunft", siehe oben, schreiben), schildern das Ende der Welt und des Lebens und versprechen im letzten Satz vielleicht auch einen Neuanfang.

All das, bis auf den Neuanfang, klingt ein wenig nach Lars von Trier, und man kann sich wohl die Frage stellen: Wozu? Diese Frage ist bei Jirgl besonders brisant, da seine Sprache, oder wenn man modisch sprechen will, die Textur des Romans, viel mehr Zerrüttung, Zerklüftung, Zukunft birgt, als es irgendein futuristischer Plot könnte. Zwar ist klar, dass die überwältigende sprachliche Kraft eine Haftfläche braucht, an der sie überhaupt wachsen kann, und das gelingt Jirgl in (post)apokalyptischen Kontexten wie hier oder anhand der Braunkohlelandschaften Ostdeutschlands in Die Stille am besten. Aber leider ist die Albernheit, die jeder Plot an sich hat, und ein futuristischer speziell, der Entfaltung der Sprache, und dadurch der eigentlichen Wirkung des Texts, eher abträglich. Wenn doch ein bisschen weniger Plot sein könnte! Aber damit genug von Geschichten, und zum Kern der Sache. Ein Textbeispiel aus dem wunderbaren Prolog des Romans:

!Tretet Allemauern Allebarrieren !nieder. - !Ja, rasch noch sagen & wagen Das, was noch Niemals von Keinem gesagt & von Niemandem gewagt: Das-Äußerste. Doch ?was ist das-Äußerste : 1 zugespitzte Landzunge aus einer öden Meeresbucht - ? Was findet sich im-Äußersten : im Flachwasser angeschwemmt Unrat Müll Kotbatzen Auswürfe der Immergleichen. Haldenhoch ausgestreut Schallscherben über die Ufer die getrümmerten Schreie - All=ungehört - ?Wohin wagt sich die Atridenschwemme mit verrosteten Schwertern, Bell Kant-oh der Säkulum-Yahoos mit troglodytem Blök & Gemaule, Religion Jogging Nordick Wall-King die Geh-Hilfen fürs ramponierte Hirn, milde Kräutertees & Stullenpapier beschmiert mit Schamanenfett Yogakringel in Butterkrem die Gemüteratzung & Schmalzbrote im Gepäck für den Seelenwandertag : Zum Ex-Oriente-Horizont - Ab-Zucht Gehirnphimose, bedrängt & gehetzt von Notwendigkeiten "Sale. Alles muß raus" - die Heut&hier leben: hartgesotten=verweichlicht.....

Mensch aber wäre nicht-Mensch wüßt er sich nicht immer zu trösten. (7-8)

Optisch fällt Jirgls Prosa auf, und gewisse Leute fragen auch hier: Wozu? Aber anders als im Fall des Plot-Wozu gibt es diesmal eine schlüssige Antwort. Jirgl befindet sich im Kontext einer Ästhetik, die von der Wiener Gruppe (Wiener, Rühm, Artmann, Bayer) und den Zürcher Konkreten (Gomringer) in der Nachfolge von Dada und Joyce über Jandl oder Arno Schmidt bis zur experimentelleren Gegenwartsliteratur läuft. Da wir hier vom Optischen sprechen, nenne ich diese ästhetische Tradition, etwas inkorrekt und vereinfachend, die Tradition der konkreten Poesie. Die Wiener Gruppe, die die konkrete Poesie (mit Gomringer) so etabliert hat, wie wir sie heute kennen, war stark von Wittgenstein beeinflusst und dessen, von Goethe entnommenem, Penchant zur Morphologie. Jetzt wollen Sie doch nicht ernsthaft Jirgls orthographische Kapriolen mit Wittgenstein begründen? Doch! Selbstverständlich! Morphologie also: Wenn man Metasprachen, das heißt Sprachen, die über die Struktur der Sprache selbst etwas sagen, so sehr misstraut wie Wittgenstein, und stattdessen dafür plädiert, dass sich die Sprachstruktur (im Tractatus die logische Form, in den Untersuchungen die Regeln) in der Sprache eingelassen zeigen müsse, dann ist die Übersicht über die Sprache, die Ordnung ihrer Sätze wichtig: eben ihre Morphologie. Denn in einer übersichtlichen Ordnung kann sich die Sprache am besten zeigen.

Zur konkreten Poesie ist es nur ein kurzer assoziativer Sprung. Die Kraft der Lyrik, Wesentliches zum Ausdruck zu bringen, besteht nicht mehr in erster Linie in ihrer Aussagekraft, im Bezug der Wörter auf Ideen, sondern in ihrer Zeigkraft, der Gestalt, der Anordnung der Wörter auf der weißen Seite. In antiken Versuchen wie Simias' Ei sind Gestalt und Inhalt klar getrennt und klar aufeinander bezogen: Das Gedicht handelt von einem Ei, hat die Gestalt eines Eis und ist überdem in ein Ei eingraviert. In der konkreten Poesie der Nachkriegszeit ist so eine Verbindung nicht mehr zwingend gegeben: Es zeigt sich eben etwas in der Gestalt des Gedichts, das sich nicht sagen lässt und auf keiner Metaebene mit Worten fixieren. Hinzu kommt bei Jirgl eine banalere Spielart der konkreten Poesie, Arno Schmidts Etymtheorie, der gemäß, ganz Freudsch, jedes Wort (oder zumindest gewisse Worte) neben der bewussten auch eine unterbewusste Bedeutung habe, die sich nicht hören lässt, sondern nur in der Wortgestalt zeigt. Jirgl verwendet Etyms etwa wenn eine Operationsmaschine nicht nach Algorithmen, sondern "Algo-Rhythmen" (d.h. "Schmerzrhythmen") funktioniert (380). Inklusive solcher Nebenschauplätze erweist sich Jirgls Text also als konkrete Morphologie. Deshalb muss seine Sprache optisch auffallen; es ist ihr Sinn und Zweck.

Mondlandschaft: Die Übersicht, die uns Jirgls Morphologie eröffnet, ist derjenigen über einen avantgardistischen Landschaftsgartens vergleichbar. Hier werden Buchsbaumbüsche nicht zu Karrees geschnitten und die Kieswege nicht gerecht wie in Versailles, und es ergeben sich auch keine ach so schönen Vistas wie in Stourhead, dass man gleich nach dem Riechsalz des Nachbarn fragt. Nein, die Buchsbäume werden wild zerhackt, der Rasen umgegraben, die Basins sind verschlammt, und die Algen winden sich an den Blumentöpfen hoch, um den Rosen die Köpfe kahl zu schlagen. In der Ferne sieht man keinen Buchenhain, sondern eine Braunkohlewüste, am Wasser steht kein Tempelchen mit Apollo, sondern ein Bagger mit hocherhobener Schaufel, aus der der Dung über die Terrassen fließt. So zerklüftet sieht die Sprache Jirgls aus, so voller Pathos, aber auch so kompromisslos und einschüchternd, schön in der Brutalität. Darin zeigt sich die apokalyptische Welt des Romans wie sie kein Plot, keine Rede marsianischer Abgeordneter sagen kann.

Soweit zu Jirgls Veduten qua Veduten. Aber anders als reine konkrete Poesie lässt sich dieser Text auch laut lesen. Und so vollzieht sich dasselbe noch einmal auditorisch. Jenseits der Harmonie und des ebenen Rhythmus kracht und rumort es in dieser Prosa. Hier zwitschern die Vögel nicht, sondern schnellen mit einem zerrissenen Flügel im Todesschrei zwischen fallenden Bäumen empor usw. In diesem Landschaftsgarten stehen auf allen Hügeln äolische Harfen. Aber die Harfenrahmen sind verbogen, die Saiten verstimmt, kreuzweis gespannt, und wenn ein Windlein weht, dann quietscht die Welt wie eine ungeölte Kaffeebohnenmühle, grausig schön. Schön aber epigonal? Nein, denn Jirgl verwendet zwar sehr gekonnt traditionelle experimentelle Techniken, aber so wie er hat keiner geschrieben und schreibt keiner: Seine Texte sind im Schriftbild, im Klang, in der Stimmung eigenständig und unverwechselbar.

Sofort umfängt uns schwerwarmer Brodem Vanille Rosmarin Nelken Moschus Aas stechen hinein Aromen Düfte Gerüche Gestank aus immerwährend Leben=vollem Blühen, ein dicker den Mund verschließender Pfropfen aus erdiglehmiger Wasserluft, weich doch unnachgiebig. Im Vorübergehen streichen ihre Finger über einen Lärchenzweig, sacht u bei-läufig schließt sich ihre Hand um das weiche Grün. - Das Glas in unsrer Nähe beschlägt, 1 Vorhang feinster Tauperlen, die Sich nach-Draußen verschleiernd. Der große dunkelschimmernde Pflanzenleib=seinerseits mag unsere Gegenwart erspüren - sogleich streckt er fleischige Blatthände nach uns aus, bestreicht unsere feucht atmenden Gesichter u die Leiber mit fadendünnen lang&luftig sich hinwindenden Tentakeln, läßt uns weich federnd anlaufen gegen grünliche Büschel, die aus Astwerken hervorwallen wie filzige Tangstauden auf dem Meeresgrund. (145)

Wir sind im Garten des Freiherrn von Risach aus Stifters Nachsommer (diese schweren wonnigen Düfte u den warmen Odem aus ewigem Frühling im Nachsommer eingeatmet, 213). Er ist genauso gepflegt wie vor hundertfünzig Jahren, nur umgestaltet. Niemand trägt mehr Filzschuhe, um den Marmorboden zu schützen. Hier ist nichts Glätte, sondern alles rauh. Zumindest an den wirklich überzeugenden Stellen, an denen sich alles zeigt, was an Zerstörtem und Zerstörerischem dieser Welt gezeigt werden kann. Glatt sind nur die Bemühungen, all das in einen Plot einzuspannen. Im Plot ist Versailles und Stourhead. Er fügt nicht nur nichts hinzu, sondern untergräbt die Kraft des Textes. Wenn man über diese Glätten nur den Pflug schicken könnte! Ich hoffe auf einen Band mit Prosagedichten von Reinhard Jirgl.

Samstag, 10. August 2013

Jelinekianer und Nicht-Wagnerianer - Zu Elfriede Jelinek

Elfriede Jelinek, rein Gold, Rowohlt 2013.

Alle Welt dünstet Wagner aus, jeder Baum ist eine Esche, und es ist kein Vieh, das nicht Runen raunt. Zur Rettung eilt wieder Jelinek, um nach Aischylos (Bambiland), Schubert (Winterreise) und Goethe (FaustIn and out) auch Wagner der Sperrmüllabfuhr des Kulturbetriebs, den Fängen seiner Manager, zu entreißen. Auf der Bühne stehen Wotan und Brünnhilde und kalauern sich durch den Ring, die Zwickauer Zelle, den Kapitalismus. Brünnhilde ist auch Beate Zschäpe, das Feuer, das die Götter verschlingt, auch die Flamme in der der Wohnwagen ihrer Genossen, deutscher Helden, aufging. Wotan ärgert sich über Jesus, aber zuletzt ist es das Gold, das die durch und durch kapitalistische Gesellschaft des Rings vorwärtszieht: in den Abgrund. Kurz, es ist ein ganz typischer Jelinektext, bissig, blödsinnig grandios, in den Wort- und Ideenspielen nicht immer treffend, aber wenn, dann auf den Punkt genau und in seiner Pünktlichkeit erst vor der Tapete all der herrlich schiefen Kalauer deutlich. Insgesamt klingt das wie folgt, es spricht Wotan:

Ja, immer schön auf dem Teppich bleiben! Wir müssen ja nicht gleich abheben wie dieser völlig abgehobene Jesus, der Erlöser, aus Menschliebe sein Selbstopfer beschlossen, sein Papa hat sofort zugestimmt, so war er ihn endlich los, der Geist hat geschwiegen, wie immer, und die Menschen hatten ihn, den Salat, auch ab sofort, immer ist alles ab sofort!, sie hatten ihn am Hals. Und ich? Ein Gott, der einst leben wollte, will jetzt nur noch seinen eigenen Untergang. Das Geld will gar nichts. Es ist da. Es ist das Dasein selbst. Es lebt in seliger Öde auf sonniger Höh. Es weiß, wie der Gott, der sich opfert, daß es in denen fortlebt, die es besitzen. Der Gott weiß bloß, daß er in denen fortlebt, die an ihn glauben. Die haben das ewige Leben, das ewige Geld hat keiner, es wäre einfach zuviel, man kann es sich nicht einmal vorstellen. Nicht einmal ein Gott, der alles geschaffen hat, kann sich so viel von etwas vorstellen. (ss. 66-7)

Man sei eingeladen, aus diesem wunderbaren Chaos die Werbetexterstränge, die Schopenhauerstränge usw herauszubeineln, oder noch besser vielleicht: darin zu baden wie in ätzendem Eukalyptus. Diese Stränge sind eigens für Wagner komponiert und für die politischen Geschehnisse der letzten Monate, aber das Bad als ganzes ist im wesentlichen dasselbe wie immer bei Jelinek und sein Wirken auf der Haut sehr ähnlich. Deshalb stellt sich die Frage, warum man spezifisch rein Gold lesen soll und nicht einen ihrer anderen Texte. Nun, zunächst kann man noch einmal festhalten, dass man ihn Wagner zuliebe lesen sollte: Es handelt sich bestimmt um die lebendigste Äußerung zu seinem zweihundertsten Geburtstag. Aber warum ist er innerhalb von Jelineks Werk besonders interessant und nicht nur ein müßiges Dacapo derselben Leiermusik, der Leiermusik eben, die in Winterreise so eindrücklich zu Wort kommt, ja viel eindrücklicher, oberflächlich, als in diesem "Bühnenessay" zu Wagner? Die Antwort liegt darin, dass durch den Wagnerbezug etwas zu Jelineks eigener Kompositionstechnik hervortritt, rein assoziativ vielleicht, das sonst nicht so eindeutig wird: Jelinek ist Wagnerianerin.

Als Skizze von dickstem Pinsel in ungeschicktester Hand könnte man einen Kontrast zwischen "wagnerianischen" Kompositionen und "nicht-wagnerianischen" zeichnen: Bei letzteren superveniert Klang über Struktur, bei ersteren Struktur über Klang. Ein nicht-wagnerianischer Komponist, zum Beispiel ein serieller Musiker wie Boulez oder ein konkreter Lyriker wie Rühm, beginnt mit strukturellen Überlegungen, Überlegungen zur Organisation von einzelnen Noten oder Buchstaben, und erst darüber entsteht ein Klang, ganz abhängig von der Struktur und diese nicht bestimmend. Ein wagnerianischer Komponist andererseits beginnt mit einem Klang, einem Akkord, einem Motiv, und erst über der Wiederholung dieses Motivs und seinem Verhältnis zu anderen Motiven entsteht so etwas wie eine Kompositionsstruktur. Jelineks Texte sind nicht durch eine Reihe strukturiert, sondern durch das regelmäßige Auf- und Abtauchen gewisser Sätze, die wiederum gewissen Themenkomplexen angehören. Das Finanzmotiv beginnt, fließt kalauernd ins Heldenmotiv, von da ins Neonazimotiv, dann taucht das Finanzmotiv wieder auf, dann kommt Jesus, Zschäppe, Zschäppe halb als Jesus als Held als Alberich als Gold als Finanzmotiv: Eine kaum enden wollende Traufe, über der nur dadurch Struktur entsteht, dass die gleichen Waschkübel wieder und wieder von den Balkonen geschüttet werden.

Jelinek ist Wagnerianerin: Man könnte die Assoziation auch kürzer fassen und sagen, dass sie eben mit Leitmotiven arbeitet. Oder man könnte das Wort "Suada" ins Spiel bringen, womit man sie auch gleich in die bestimmt wichtige Verbindung mit Thomas Bernhard brächte. Nur, was heißt es, wenn man sagt, ein Text sei eine Suada oder aus Leitmotiven konstruiert? Vielleicht so etwas wie oben skizziert. Aber wichtiger als solche Analyseversuche ist der Eindruck, der sich einem sowohl bei Wagner als auch bei Jelinek aufdrängt, der Eindruck, man sei in einen Strom gefallen, dem man nichts aufzwingen kann, dem man sich nur übergeben oder durch vollständiges Abtrocknen entziehen kann. Nicht dass es nicht Tausende Unterschiede zwischen den beiden gäbe, das Satirische, jedem Weihrauch bös Gesinnte ist doch eher Jelineksch als Wagnersch usw. Aber die Grundeinstellung, die man tätigen muss, um Wagner und Jelinek schätzen zu können, ist dieselbe: Man muss das Strömende, das Leitmotivische, die Suada als Kompositionsprinzip akzeptieren, und nicht als Kompositionsversagen, als Absturz in die Eindimensionalität, entwerten, um die Komplexität und den Reichtum der Texte zu erkennen.

Deshalb lohnt es sich besonders, rein Gold zu lesen, um zu sehen: Wagner ist Jelinekianer.