Dorothee Elmiger, Schlafgänger, Dumont 2014.
Bis anhin hat Elmiger zwei Romane veröffentlicht,
und es fällt auch noch nach dem zweiten, Schlafgänger,
schwer, nur einen Satz von ihr zu finden, den man nicht verteidigen könnte.
Höchstens die Plusquamperfektkaskade gegen Ende des zweiten Abschnitts auf
Seite 13 ist fragwürdig; ansonsten ist der Text, in gewisser Weise, makellos.
Zudem ist die Prosa, anders als bei Gstrein, auch mehr als lediglich
handwerklich gut. Nahtlos und souverän in der Tonlage ist sie, in gewisser
Weise, eigenständig, mit eigenem Duktus und eigenem Ziel.
Schlafgänger
ist ein Konversationsstück. Verschiedene Figuren, nicht gerade Charaktere,
sondern eher schemenhaft vorhandene Personen, Figuren also, unterhalten sich
über Grenzen, Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum, aber vor allem konkret
über Migrationsgrenzen, wie die kalifornisch-mexikanische Grenzlinie oder den
Rheinhafen in Basel. Es erzählen ein Logistiker, eine Schriftstellerin usw. von
ihren Eindrücken, Erlebnissen bezüglich Grenzen und verleihen dem
Tagesgeschäft, wie es in Zeitungszitaten im Text aufblitzt, durch ihren
suchenden, !mystisch suchenden Gestus, an der Grenze von Wirklichkeit und Traum
eben, eine abgrundtiefe Bedeutung. Wie schon in der Einladung an die Waghalsigen, Elmigers erstem Roman, wird die
Bedeutung, die sich in der Abgrundtiefe findet, nicht explizit, aber die
Suggestion, dass die Bedeutung bedeutend ist, ist eindeutig: Wie die
Waghalsigen, so schürfen auch die Schlafgänger an den Grundfesten der Welt.
Dazu wählt Elmiger, ebenfalls wie im
Vorgängerroman, einen poetisch beschwörenden Ton, der sich sanftest wiegt. Wir
kennen diesen Ton. Vielleicht ist schon die Anspielung im Titel auf Hermann
Brochs Schlafwandler gewollt, aber
bestimmt ist die Nähe zu Autoren wie Gerhard Meier oder, noch zeitgenössischer,
Friederike Kretzen spürbar. Es ist der klassische Ton heutiger poetischer
Romanschreibung und wirkt als solcher, in gewisser Weise, vorgefertigt. Denn
seine Zutatenliste ist Allgemeingut: Zunächst treten die Protagonisten als
Erzähler auf und werden nur vage charakterisiert, in dem Sinn eben, in dem sie,
wie oben genannt, Figuren sind. Außerdem wird das Erzählte nicht gewertet,
sondern verharrt, ganz Phänomen, in der Beschreibung. Schließlich herrscht die Parataxe,
und mithilfe eines Kommaschwarms werden Impressionen wie in einem Verzeichnis
aufgereiht und häufig auch refrainartig strukturiert, wie in einem Gedicht
eben, vielleicht sogar einem homerischen.
Die Schlafgänger
folgen der Zutatenliste, und doch ist der poetische Ton bei Elmiger besonders
beeindruckend, dank der Perfektion der Wortsetzung und der erfrischenden
Insistenz, mit der sie schreibt. Die Makellosigkeit oder Perfektion allerdings
wird durch das übermäßige Vertrauen ins Parataktische leicht getrübt. Es
scheint etwas gar einfach, die Schwierigkeiten der Prosa aufzulösen, indem man
sich gar nicht erst an die wahren Gefahren, die Nuancen der Satzverbindungen,
traut, und in gewisser Weise ist diese Einfachheit des Wegs zur Makellosigkeit
ihr Makel. Andererseits ist die Insistenz im Verfahren doch wieder radikal und
eigenwillig und dadurch die erreichte Perfektion zuletzt alles andere als das
Ergebnis schriftstellerischer Gemütlichkeit. So treibt insgesamt die Insistenz
diesen Text an und ringt dem standardisierten poetischen Ton einen wirklichen
ab. Ich erinnere mich, dass ich bei Mayröcker von Insistenz gesprochen habe.
Vielleicht ist auch diese Vergleichsgröße nicht völlig absurd. Um die
bisherigen Bemerkungen greifbar zu machen, bittet ein Auszug zum Tanz:
Eine
wahre Geschichte, sagte Esther und erhob sich: Mit einem befreundeten Kind
bestieg ich ein Tretboot, wir stachen in See, links überholte ein Raddampfer,
rechts lag das Haus, in dem einst Wagner wohnte, überall Alpgebirge, Schwäne
umzirkelten das Boot, ich erklärte das Wort majestätisch, das Kind zog sogleich die Schuhe aus, wann
immer ich das Steuer losließ, hielt es Richtung Süden, sodass wir uns Werftsteg
und Bootshafen näherten, statt ins Offene hinauszuschippern, ich wies das Kind
darauf hin und steuerte gegen, warum es unbedingt in diese Richtung fahren
wolle, fragte ich, die Sicht war klar, die Vögel trillierten, das Kind zuckte
mit den Schultern, es streckte die Füße zur Seite ins Wasser, der Winter ist
vorbei, jubelte ich, sieh an, ein Ausflugsschiff namens Schiller passierte uns, das Kind trank Coca-Cola,
über uns donnerte die Patrouille Suisse. Erst Tage später las ich zufällig, zu
genau jener glänzenden Zeit, als das Kind Richtung Süden steuerte, die Alpen so
majestätisch sich erhoben und das
Ausflugsschiff den Quai verließ, sei am Werftsteg ein neunzehnjähriger Algerier
(so schrieb die Zeitung) beim Schwimmen ertrunken. (s. 107)
Die Pointe hier ist ganz typisch. Oft wirft
Elmiger Berichtfetzen ein, meistens mit Bezug zu Opfern der Migration, die im
freien Fall aus der poetischen Lage ein hohles Schlucken auslösen. Mit diesem
Effekt wird das Thema des Buches, denn es hat eben ein Thema, nämlich den
globalisierten Flüchtling, angegangen. Das hohle Schlucken speist sich aus dem
unmittelbaren Nebeneinander des im Stacheldraht Zerfetzten mit der Krokusblüte
und fügt sich so schön aus der parataktischen Poesie des Romans. Der Effekt ist
bekannt, auch er gehört zum Standardrepertoire des poetischen Tons, wie er,
wenn auch weniger tagespolitisch, von Gerhard Meier gepflegt wurde. Die Frage
ist, ob der poetische Ton zur Behandlung eines Themas wie der Migration
geeignet ist, und die Antwortet lautet, nein. Man soll nicht gleich nach
Reporterhärte schreien oder sich das wunderbare Hackebeil Jelineks wünschen,
aber etwas mehr Konfrontation mit der Politik, wenn denn schon Politik sein
soll, täte gut. Nur einfach Zitate in den Text einzulassen, als poetischen
Kontrapunkt, und sie, wie es der Ton befiehlt, schweben zu lassen, ist auf die
Dauer dann doch zu bequem.
Ein warmer Nachmittag in der Hängematte, es
raschelt ein Vögelein zwischen den Zweiglein, durch den schweren Fliederduft
ziehen aus der Ferne Sirenen, ach, in der Ferne wird gekreischt, aber ich liege
in der Watte des Konstatierens im Zitat und stoße mich mit den Zehenspitzen von
der Kirschbaumrinde ins Schaukeln hin und her. Schlafgänger wäre wesentlich interessanter, wenn sich der poetische
Ton ab und an unsanft angriffe, wenn, ja, auch der Kalauer ist ein Werkzeug,
weniger in der Tiefe geschürft und mehr an der Oberfläche gekratzt würde.
Allgemeiner gesprochen vermisse ich, wovon ich
bei Gernhardt et al. zuviel verabreicht bekomme, den Schalk. Die Homogenität
des Textes ist, ich wiederhole mich, beeindruckend. Aber gleichzeitig zeigt er
die Grenzen des poetischen Tons auf. Wenn alles Fliederduft ist, ist auch der
Fliederduft fade. Etwas Esprit, Richtungswechsel, Registerwechsel, vielleicht
sogar Brüche in der Perfektion täten gut. Hier unterscheidet sich Elmiger,
nicht zum besseren, von Kronauer oder Hoppe, die den beschwörenden Klang auch
beherrschen, ihn aber nicht als Allwürzmittel verwenden. Man sagt, ein guter
Autor müsse seinen Stil finden, und möglicherweise ist das nicht falsch. Aber
ein noch besserer Autor sollte auch zum Stilbruch bereit sein. Weniger
klangschön wäre Schlafgänger ein noch
besseres Buch, und vor allem eines, das seinem Thema adäquater würde.