Samstag, 16. Januar 2016

Vitalitätsgenie - Zu Rainald Goetz

Die Dankrede von Rainald Goetz zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2015 findet sich hier: www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/rainald-goetz/dankrede 

Aromat, über alles, Aromat! Begeistert ist die Welt, die Akademie, dass sie endlich wieder begeistert werden konnte. Die Diät von Knäckebrot und Leitungswasser, die sie, die Akademie, sich in den letzten Jahren eher häufiger als weniger häufig auferlegt hat, ist für einmal vom Tisch. Endlich steht da einer, der nicht zurückhält, sondern Literatur macht, ganz wie sie sich gehört: künstlerisch. So viel Verve war lange nicht. Da geben sie Rainald Goetz zum Büchner-Preis gleich noch einen Preis für die Büchner-Preis-Rede hinzu. Dann ist wieder klar: Wir stürmen und drängen. Mit Bedacht.

In Johann Holtrop nennt Rainald Goetz den eponymen Johann Holtrop ein „Vitalitätsgenie“. Ein Vitalitätsgenie, so viel ist zunächst offensichtlich, kann durch ungebrochene Kasperliaden eine Energie entfachen, mit der er die Ambitionen der Konkurrenten einäschert, um allein erfolgsgekrönt auf der Bühne zu stehen, vor aller Augen der Hauptathlet. Damit bringt sich Holtrop voran, das macht ihn groß. In Goetz’ Rede entspricht er dem jungen feurigen Autor, dem der ältergewordene Schriftsteller als einzigem zubilligt, in aller Ehrlichkeit „herrlich sprechen“ zu dürfen. In Goetz’ Leben entspricht er dem jungen feurigen Goetz, der sich anlässlich des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs mit der Rasierklinge anritzt, um allein erfolgsgekrönt auf der Bühne zu stehen. Es sollte also kein Geheimnis sein, dass Johann Holtrop nicht nur eine Projektionsfläche alles Bösen unserer Zeit ist, Anlass zum Abriss der gesamten Gesellschaft, ansonsten wäre der Roman möglicherweise langweilig, sondern auch ein alter ego des Verfassers: Auch Rainald Goetz ist oder war ein Vitalitätsgenie.

Nun steht allerdings der gereifte, der vielgepriesene Olympier vor uns, akademisch und jenseits der genialischen Vitalität, könnte man meinen. In seiner Rede distanziert sich Goetz von der Jugend, die er zwar sprechen lässt, aber nicht mehr in seiner eigenen Sache. Er feiert seine Initiation in die Akademie, zeigt sich als verwundet in seiner jugendlichen Genialität und aufgefangen im Gips der Institutionen. Aber es wäre ein Fehler, darin die Selbstüberwindung des Vitalitätsgenies zu sehen. Johann Holtrops wirklich erfolgreiche Karriere folgt erst auf den Zusammenbruch des feurigen Jung-Managers. Im zweiten Stadium lösen Jeremiaden die Kasperliaden ab, dass sich endlich alles Rampenlicht restlos am Genie breche. Die Verve im Jammern trägt Holtrop erst zu den wirklichen Weihen des Selbstdarstellers. Dem Schriftsteller ergeht es nicht anders. Die versteckte Zentralfigur dieser Büchner-Preis-Rede ist Michel Houellebecq, der Meister der Inszenierung seiner Leiden und so der Zwilling von Rainald Goetz; Lust und Pein sei ihnen gemein. Wir erleben in dieser Rede nicht, wie sich aus dem Vitalitätsgenie ein Klassiker gebiert, sondern wie sich ein Vitalitätsgenie zu einer noch effektiveren Version seinerselbst mausert.

Die Kaputtheit der Gesellschaft und die Kaputtheit der Person, die Houellebecq in allen Medien zelebriert, lässt auch Goetz in Johann Holtrop ihren Reigen tanzen, und er tanzt ihn, in seiner „Lähmung“, selber im Rhythmus seiner Rede mit. Was nun die beiden Entwicklungsstadien des Vitalitätsgenies verbindet, ist nicht die Ekstase, die keineswegs gegeben ist, sondern der Wille zur Ekstase, Ekstase soll um jeden Preis erzwungen werden, erst durch die Revolution, dann, nach ihrem Scheitern, durch das Klagelied (man rauft sich die Haare, man wälzt sich im Schlamm). Nennen wir diese Haltung „Ekstatismus“. So viel Verve war lange nicht. „Spatz und Saturn, Wahn und Wirresein usw“, Goetz lässt in seiner Rede die Artillerie des Ekstatismus von Beginn weg donnern. Und die Akademie ist begeistert. Dabei müssten wir von Johann Holtrop doch wissen, dass die Tricks des Ekstatismus zum Handwerk oberflächlicher Kosmetik gehören.

Die ekstatische Wendung ist das Toupé der Schönheitsoperation; billig und wirksam. Oder eben das Aromat unter den Gewürzen; billig und wirksam. In seiner Rede scheint Rainald Goetz beinahe überrascht von der Aufmerksamkeit, um die er sich strebend bemüht hat und die er nun endlich erhält. Er kann nicht anders, als im Gestus des Vitalitätsgenies zu verharren und auch jetzt, da der Sonne Strahlen wirklich ausreichend auf ihm ruhen, nervös wieder und wieder zum Ekstasesalz zu greifen. Es ist ganz wie bei Johann Holtrop. Dass sich die Damen und Herren davon begeistern lassen, spricht vor allem gegen das Knäckebrot, das sie sich sonst so gerne zuführen. Da sehnt man sich doch nach Sturm und Drang im Wasserglas.

Goetz selbst hingegen spannt die Literatur viel weiter. Er inszeniert nicht nur das Vitalitätsgenie (sich selbst), sondern auch die Inszenierung des Vitalitätsgenies; so hat er es in Johann Holtrop getan, und so tut er es in der Preisrede. Dabei ist nicht das Vitalitätsgenie das eigentliche Ziel des Angriffs, sondern die Welt, in der es sich verwirklicht. In der Preisrede treibt er das Verfahren gegenüber Johann Holtrop noch das entscheidende Stück weiter, indem er sich selbst unverhüllt als das Vitalitätsgenie, das er schon immer war, in die Mitte der verlorenen Gesellschaft stellt. Die Rede sollte eigentlich heißen: Rainald Goetz – Abriss der Akademie.