Durs Grünbein, Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond,
Suhrkamp 2014.
Die Aufgabe der
Dichtkunst ist wesentlich, so viel ist evident. Desweiteren ist aber weniger
offensichtlich, worin sie bestehe in ihrer Wesentlichkeit. Nun, man
pointilliere sich einen Pfad in die Leinwand. Durs Grünbein, vermutlich der
bekannteste deutsche Dichter, den man 2014 noch einer Vivisektion unterziehen
kann, hat einen neuen Gedichtband einschließlich eines Begleitessays verfasst.
Er handelt vom Mond, und er portiert eine These. Systematisch werden die Krater
des Mondes abgeklappert und unter den Titeln ihrer Namen von Thales bis
Armstrong bedichtet. Einer der Krater heißt Cyrano, was Grünbein den Anlass
gibt, Cyrano de Bergerac einzuweben, den selbst erfabelten Mondbesucher des 17.
Jahrhunderts. Wie Grünbein in seinem Essay nahelegt, war Cyrano besonders
bedacht, seine Rückkehr auf die Erde zu verhandeln. Daraus zieht Grünbein in
seinen Gedichten die folgende Konsequenz, die These eben des Buches: Der Mond
ist auf der Erde interessant, aber nicht auf dem Mond. Als Sehnsuchtsort und
Projektionsfläche ist er erledigt, sobald der Mensch durch sein Geröll stapft.
Damit wäre ein möglicher
Aufgabenbereich der Literatur gefunden, nämlich, eine Aussage über die Welt zu
machen. Entsprechend neigt Grünbein auch zur Philosophiererei:
Wer kann durch das Fernrohr der Metaphern sehen,
In dem das Ferne nah – das Nächste fern erscheint,
Kausalitäten sich verknoten und Ereignisse?
Wie vieles übereinstimmt im Verschiedensein. (Tesauro, s. 12)
Ein großes Tier war dieses All, von Stern zu Made
Derselbe Zwischenraum. Man konnte in ihm baden. (Isidorus, s. 17)
Wußte er von der Vielheit der Welten? Wie Läuse
Den Wald auf dem Kopf eines Bettlers bewohnen,
Wirbelte mehr als nur ein Volk um die Sonne. (Grimaldi, s. 18)
Selbstverständlich möchte
Grünbein ab und an den Titelhelden der Krater und Poeme seine Reverenz
erweisen, indem er wiedergibt, was er für ihre denkerischen Kernpunkte hält.
Aber das Verfahren wirkt zufällig. Manchmal geht er auf die Genannten ein, dann
wiederum enthält er sich jeder Bezugnahme. Unter anderem deshalb, aber auch
weil nur schon ein Ansatz zur Distanzierung von den Paraphrasen, sofern es sich
denn um solche handelt, nicht zu erkennen wäre, scheinen die philosophierenden
Passagen direkt vom Dichterich verantwortet. Leider bestehen sie aus nichts als
möchtegern-profundem Nonsense (siehe oben); sie sind einfach enorm schlechte
Philosophie. Sollte der Wert der Literatur sein, schlechte Philosophie
anzubieten? Ich hoffe nicht. Parmenides hat seinerzeit gute Philosophie
gedichtet, und es wäre vielleicht mit Mühe denkbar, dass jemand Ähnliches heute
wieder geschehen lassen könnte, obwohl ich um die Existenz eines solchen
Ambidextren nicht weiß. Jedenfalls ist Grünbein keiner von ihnen (siehe oben).
Ich würde vorschlagen, die Philosophie den Philosophen zu überlassen und die
Kosmologie den Physikern. Unsinnige Pseudoweisheiten, sofern ernst gemeint,
sind unlesbar und verderben Gedichte.
Aber natürlich erschöpft
sich Grünbein nicht im Maximenhaften. Vielleicht die am weitesten verbreitete
Forderung an die Lyrik ist, dass sie Erlebnisse und Gefühle fassbar machen
soll, die allen bekannt sind, aber gemeinhin nur vage getroffen werden. Bei
Grünbein fungiert der Mond als Bezugspunkt für ein solches gemeinschaftlich
menschliches Fühlen. Einerseits bietet er durch seine Ubiquität die
Geborgenheit eines Fixpunkts, andererseits stellt sich angesichts seiner Kälte
und Unvergänglichkeit Verlorenheit ein:
Vielleicht war er der Ruhepunkt, den alle suchten,
Ein Leben lang, und dann doch bald vergaßen.
Sie blickten auf und sahen – sahen ihn nicht mehr.
...
Ach ja, der Mond. Sie kannten ihn – das war
Dies bleiche Osterei. Es hing wie ausgeblasen
Über dem Lichterdunst der Städte, Jahr um Jahr. (Sacrobosco, s. 85)
Wer kann sagen, wie es auf dem Mond wohl roch?
...
Und kein meerweites Flüstern. Geologische Stille.
Nichts zum Erinnern – und nun? Keine Topographie
Für die Irrfahrt des Ichs, gebucht auf ein Du. (Hevelius, s. 86)
Solcher Appell ans
Gemeinschaftsgefühl kann Trost leisten. Ich bin häufig traurig und weine in der
Trauergondel vor mich hin; und dann hilft es, wenn man sieht, der andere habe
auch schon als Mondlandschaft auf einem staubigen Marmorklotz gestanden,
während vor seinen geschätzten Augen Brangelina umarmt durch lauwarm
beschattete Lauben schlendert; es hilft also, wenn man sieht, es geht dem armen
Tropf so wie mir.
Möchte man die Aufgabe
der Musenkinder darin sehen, ein Gemeinschaftsgefühl gegen die Einsamkeit zu
produzieren, besteht nur die Gefahr, dass sie doch wieder mit dem
Weisheitendreschen zusammenfällt. Die Plattitüde „Das Menschsein ist ein
Strudel im Siphon“ ist der Plattitüde „Ach, ich sehe deinen Rockzipfel, und mir
wird so rosa“ an Plattitüdität nicht überlegen. Dann ist die Dichterei zwar
nicht schlechte Philosophie, da sie gar nicht Philosophie ist, aber immerhin
banal und langweilig, vielleicht etwa so wie empirische Ratgeberliteratur.
Wiederum wäre zu hoffen, dass die Aufgabe von Lyrik nicht darin besteht, uns
mit Binsen zu flagellieren.
Es gibt allerdings einen
leichten Ausweg für Schriftsteller. Eine Binsenwahrheit wird interessant, wenn
sie gut geschrieben ist, nicht propositional interessant, natürlich, aber
poetisch interessant, und das ist doch alles, was man von der Poesie
letztenendes erwarten darf. Wir sollen uns nicht alle in den Ästhetizismus
flüchten, aber der Verdacht bleibt bestehen, dass das Eigenständige, das die
Literatur leisten kann, im Grund sprachlich ist. Sie ist in der Lage,
Justierungen an herkömmlichen Ausdrücken vorzunehmen und ihnen neuen Lack
überzuziehen, und gelingt es ihr nicht, ist sie eben matt und schal. So gibt es
eine Leere der poetischen Banalität geradeso wie der philosophischen. Es
entspricht der banalen philosophischen Aussage der banale Satz, der
Hausfrauenwahrheit die Hausfrauenidiomatik. Wenn wir von den momentan nicht
verfügbaren ambidextren Poeten-Philosophen absehen und realistischere Ansprüche
walten lassen, wäre also die Aufgabe des Dichters, keine sprachlich banalen
Sätze zu schreiben.
Leider finden sich bei
Grünbein wenige Sätze oder nur schon Wortgruppen, die davon zeugten, dass hier
besonders interessant mit der Sprache gearbeitet wurde. Ein, zwei Hyperbata
fallen auf, manchmal ein Aufprall der Ernsthaftigkeit im Bathos, aber insgesamt
stößt einen doch beinahe nichts in interessante Richtungen; es mangelt an den
kleinen Wendungen, durch die dem Bestehenden etwas Neues abgewonnen werden
kann, und an Verknüpfungen, die nicht auf Anhieb offensichtlich gewesen wären.
Einige Metaphern sind geglückt, bestimmt, und schlecht ist keines der Gedichte,
dazu sind sie zu professionell konstruiert. Aber zuletzt wird in diesem Band
gedanklich wie sprachlich, philosophisch wie poetisch, nur das Hergebrachte
repetiert. Daraus erwächst kein Trost und kein interessanter Platz für die
Literatur.